Ich bin mal dem Rat meiner Frau gefolgt und habe ein “Schulbuch”, nämlich “Hüter der Erinnerung” von Lois Lowry, gelesen und hab’ daran etwas Überraschendes und Interessantes entdeckt.
Es ist ein Jugendbuch was, wie gesagt, des öfteren in der Schule behandelt wird. Allerdings eher in der Originalfassung im Englisch-Unterricht. Und von Anfang an entsteht der Eindruck, wie bei vielen Schulbüchern die ich lesen musste, dass es eine typische Science-Fiction-Kurzgeschichte aus den 60gern oder 70gern ist (obwohl es 1993 erschien). Es wirkt etwas angestaubt und hat eine Handlung, die weder mitreist noch spannend ist. Als Schüler hätte ich das Buch … um ehrlich zu sein … gehasst. Immerhin ist man schnell durch. Ich hab nur 3 Stunden gebraucht.
Aber: der Inhalt ist in dem Fall auch gar nicht der Punkt. Sondern das bemerkenswerte sind die “Technik”, wie die Geschichte erzählt ist, und wie man sie dadurch anschließend deuten kann.
Die Autorin erzählt sehr spartanisch und eher beiläufig. Sie erschafft eine Welt, in der der Leser sich sofort zurechtfindet. Es erscheint wie ein normaler Tag eines normalen Jungen irgendwo in einer Kleinstadt.
Es werden im Grunde immer nur Bruchteile erwähnt, aber so, dass es nicht Stückhaft wirkt. Der Erzählstil ist flüssig und es scheinen keine Informationen zu fehlen. Da man sich in dieser Welt durchaus wiederfindet, füllt man als Leser alles ungenannte mit seinen Erwartungen auf. Mich z.B. erinnerte das alles ziemlich an meine Kindheit in der DDR. Das wird jedem anders gehen.
Das treibt sie gekonnt durchs ganze Buch und deckt hin und wieder Teile auf, die dann beim Lesen so gar nicht ins Bild passen wollen. Das ist handwerklich einfach gut gemacht und es gibt keinen Punkt, an dem man irgendwas davon vorausgeahnt hätte. Als Leser ist man gezwungen, bei jeder dieser Stellen das Weltbild zu zerlegen und irgendwie passend wieder zusammen zu setzen. Und das wird mit jedem mal etwas schwerer.
Und ihr größter Trick und das besondere an dem Buch ist, meiner Meinung nach, dass es kein ein Ende gibt und auch keine Geschichte im eigentlichen Sinn. Jeder kann, je nach Wunsch, Begabung und Weltanschauung, seine eigene Geschichte daraus machen. Und: sie baut keine Erwartungen auf die dann nicht erfüllt werden. Nichts erscheint widersprüchlich.
Denn: nach dem ich fertig war, fielen mir spontan 4 Erklärungen für was und warum ein. Und ich denke, da geht noch was.
Falls Du das Buch unvoreingenommen lesen willst, lies hier nicht weiter, denn ab hier gibt’s meine Interpretation der Geschichte. Außerdem: ohne es gelesen zu haben sagt Dir das interpretierte ja nichts. Das Fazit ist wieder ungefährlich und steht ganz am Ende.
1. Es ist wie es da steht.
Jonas ist tatsächlich in Anderswo gelandet. Es ist rein zufällig genau Weihnachten und alles ist gut.
So oder ähnlich wird das bei sehr jungen Lesern ankommen. Disney pur.
2. Nur geträumt
Das Ende ist etwas zu dick aufgetragen. Es ist irgendein Berg in einer verlassenen Gegend und vor dem Tod der beiden träumt Jonas nochmal einen passenden Traum. Der Rest der Geschichte entspricht aber der “Wahrheit”.
Schon besser, aber für mich sind dadurch 95% des Buches noch zu Disney-Artig. Das wiederum passt dann nicht zu diesem Ende.
3. Du darfst lügen
Alles, ab kurz nach der Nominierung zum Hüter, ist inszeniert. Da Jonas die offizielle Erlaubnis zum Lügen hat, hat sie natürlich auch der Geber. Darum ginge es auch so:
Jonas wird zum Hüter ernannt, was noch kein Problem ist. Der Geber testet aber seine Loyalität zum System und es stellt sich heraus, dass Jonas einige Dinge lieber ändern würde. Jonas teilt dann auch noch eine Erinnerung mit einem anderen, potentiellen Hüter, der noch ein Kleinkind ist und mit solchen Erinnerungen ggf. auf dumme Gedanken kommen wird. Also beseitigt der Geber beide elegant. Dem ist vermutlich auch etwas langweilig, so ein bisschen spielen kann durchaus Spaß machen.
Aber Warum?
- Der Geber lügt
- Er behauptet, keine Macht zu haben, aber bei jeder Anweisung, egal welcher, kommt nur ein “danke für Deine Anweisung” und es wird erledigt. Er steht außerhalb des Systemes und gibt Anweisungen an extrem naive Vollbrote (siehe der Vater, der nicht begreift, dass er die Säuglinge tötet; denn er kennt den Tod nicht). Das auszunutzen ist ein Klaks. Die würden das nicht mal merken.
- Die Geschichte mit Rosemary ist zu glatt
- Dieser Teil ist auch sehr “Bambi-Artig”. Sie sieht eine schlechte Erinnerung und tötet sich sofort selbst? Nur der Geber weiß was passiert ist und man muss ihm zu 100% trauen. Aber warum eigentlich? Ich vermute eher, sie hat den gleichen Test gemacht wie Jonas und ist auch durchgefallen.
- Der Geber ist kein Gutmensch
- Der Mensch an sich ist gut? Nein (böse natürlich auch nicht). Der Mensch an sich ist Opportunist + Gewohnheitstier? Ja. Jeder bringt seine Schäfchen ins trockene, und je länger man etwas auf eine Art erfolgreich macht, desto fester glaubt man daran. So wird das auch beim Geber sein. Er ist sein Leben lang Hüter des Systems. Bisher quälen ihn lediglich die schlechten Erinnerungen, aber das System nimmt er so hin. Wenn er sein leben Lang das alles wusste muss erst Jonas ihn auf so eine Kleinigkeit hinweisen? Selbst seit Rosemary hatte er viel Zeit zum nachdenken und handeln. Also warum sollte er ein Leben lang dem System dienen nur um in weniger als einem Jahr alles zu verraten? Das ist sehr unwahrscheinlich.
- Alle Hüter stammen vom Geber ab
- Das wird zwar nicht direkt erwähnt, aber Rosemary ist laut Aussage vom Geber seine Tochter. Alle anderen Menschen dieser Welt sehen anders aus aber alle mit hellen Augen können Hüter werden. Das 1×1 der Vererbungslehre. Damit ist Jonas auch sein Sohn, aber das verrät er nicht.
- Nur Jonas soll gehen
- Wer wie ich zu viele Horrorfilme gesehen hat weiß: “geh’ Du vor, ich bleib hier” ist das Todesurteil für einen der Beiden. Der Geber konnte laut eigener Aussage ja beim letzten Mal das Chaos auch nicht beherrschen und es waren weniger Erinnerungen. Das macht also kaum Sinn, dass er bleibt. Der Plan sagt auch nur: lauf so weit Du kannst. Nicht: gehe dort und dort hin oder auf diese Weise. Also nur ein “geht weg, mich interessiert nicht, was mit Dir passiert”. Hmmm.
- An wen kehren die Erinnerungen zurück, und warum?
- Warum sollten die Erinnerungen an alle gehen? Warum nicht nur an den Geber? Oder alle potentiellen Hüter die reif genug sind (also keine). Auch das ist blankes Vertrauen auf die Aussage des Gebers, der es aber eigentlich nicht wissen kann. Nach seinen Geschichten weiß er davon, was nach dem Tod des Hüters passiert. Aber von “weit weg” hat niemand was gesagt.
- Geträumte Kälte erzeugt Wärme
- Mal rein technisch: wenn mein Kopf der Meinung, es ist kalt, dann beginnt mein Körper erst recht mit heizen. Wenn Jonas sich also an Schnee “erinnert”, dann versteckt er sich damit eher schlecht vor Wärmesuch-Kameras. Warum also entdecken ihn die Sucher nicht? Außer: sie sollen nicht.
- Es gibt keine Zufälle
- Monatelang wird Gabriel bei Jonas im Haus behütet. Es geht mal gut mal schlecht. Und ausgerechnet an diesem einen Tag vorher soll er freigegegben werden? Von jetzt auf gleich? Alles in der Welt folgt den Regeln, nichts ist überraschend und dann soll diese Überraschung geschluckt werden? Da hat doch jemand an der Uhr gedreht.
Natürlich kann man bei jedem Punkt etwas entgegen halten. Aber es gibt keine Gewissheit. Lediglich das mit der Wärme ist ein Punkt… aber wer Farben aus der Welt verbannen kann und Erinnerungen überträgt… warum nicht mit Erinnerungen Kälte “erzeugen”.
4. Ein Nachfolger?
Mal einen Schritt ganz aus der Geschichte heraus. Da leben Menschen wie im Bienenstock. Jeder hat eine zugewiesene Aufgabe und mach dies bis zum Tod. Lediglich die Königin … hier eher der König, also der Geber, hat Freiheiten und fällt Entscheidungen. Und: er erzeugt den Nachwuchs. Denn Gebährerinnen sind da… aber wo sind die Väter? Und zumindest Rosemary ist ja wohl seine Tochter.
Er lebt also als König von mehreren Staaten und regiert über wohl und wehe. Und er vermehrt sich mit 12 bis 15 jährigen Mädels. Ja, das wird nicht auf die Art erwähnt, aber: mit 12 fangen sie einen Beruf an und Gebährerin ist einer… und das machen sie max. 3 Jahre… also ist mit 15 schon Schluss.
Und es wird noch andere Geber geben. Die sind zwar nicht erwähnt, aber so klein ist die Welt ja nun auch nicht. Und er kann sich nicht um Milliarden von Menschen kümmern.
Wer also sein Leben so verbringt und sich nur Leuten seiner Art trifft, wie wird der wohl sein? Gewohnt, über Menschen und deren Tod eher beiläufig zu herrschen und das andauernde freigeben kaum noch zu registrieren? Das ist kein Ghandi.. das ist eher Stalin oder Pol Pot. Alleinherrscher und Gott.
Und so jemand sucht einen Nachfolger?
Wenn er tatsächlich der Nachfolger sucht, muss der seinem System absolut ergeben sein (siehe Version 3). Aber das ist nicht wahrscheinlich denn:
Der Geber muss ja etwas abgeben und verliert somit etwas. Er bleibt es ja nicht und nach seinem Tod wird gewechselt. Er muss also recht kurzfristig seine Macht teilen. Kam das bei so Persönlichkeiten mal vor? Wirklich? Da ist es wahrscheinlicher, er gönnt sich hin und wider mal ein Spiel und schaut, wie seine Laborratten so reagieren und wie lange sie überleben. Nur so zum Spaß.
Fazit
Ein sehr interessantes Buch und super geschrieben. Und trotz der lauen Geschichte ist es dass beste Ende seit langem.
Es ist kein Buch, was man gelesen haben muss. Schon gar nicht, um unterhalten zu werden. Aber wer gutes Handwerk sehen will, sollte hier mal reinschauen.
Diese Autorin sollte sich mit jemand zusammen tun, der atmosphärisch schreiben kann. Das würde ich sehen wollen. Auf jeden Fall schau ich mal, was die Dame sonst noch so geschrieben hat.